Geschichte des Stadtteils Rähnitz

Auf ca. 850 Jahre Ortsgeschichte kann der heutige Stadtteil von Dresden zurück blicken. Zum 100. Jahrestag der Rähnitzer Kirche im Jahr 2004 hat der Historiker Prof. Dr. Karlheinz Blaschke einen Vortrag zu diesem Thema gehalten, den wir hier auszugsweise widergeben:

850 Jahr Besiedlung des Dresdner Nordens

Das Hochland im Norden des Dresdener Elbtales war um das Jahr 1100 noch unbewohnt. Das breite, niedrig gelegene Becken um Dresden war nach 600 von den slawischen Sorben besiedelt worden. Sie hatten ihm bei ihrer Ein­wanderung aus Böhmen nach dem Überschreiten des Osterzgebirges den Namen „Nisan“ gegeben, d. h. „niedrig gelegenes Land“. Die bis heute hier verbreiteten Ortsnamen slawischer Herkunft machen diese Tatsache deutlich: Radebeul, Serkowitz und Zitzschewig weisen darauf hin. Oben auf der Hochfläche gibt es fast nur deutsche Ortsnamen wie Wilschdorf, Reichenberg und Cunnertswalde, die erst nach der deutschen Eroberung des Gebietes und dem Bau der Reichsburg Meißen im Jahre 929 entstanden sein können. Daraus ergibt sich der Schluss, dass dieses Gebiet erst später für die Siedlung erschlossen worden ist. Der Zeitpunkt kann erst nach 1150 angesetzt werden, denn zum Jahre 1144 ist das Dorf Naundorf bei Kötzschenbroda – das „neue Dorf“ – urkundlich erwähnt, erst danach kann die deutsche Kolonisation aus dem Elbtal auf die Hochfläche hinaufge­gangen sein. Mit ihrem kälterem Klima und ihren ungünstigeren Bodenver­hältnissen wurde sie erst dann bevölkert, als das Elbtal voll erschlossen war.

In diesen Vorgang ist die Gründung des Dorfes Rähnitz einzuordnen. Wenn man nochmals die Ortsnamen betrachtet, so zeigen sie zwar ein Vorherr­schen von Namen deutscher Herkunft, daneben aber auch einige sorbische. Bei Klotzsche und Rähnitz ist ihr fremdsprachlicher Ursprung eindeutig. Bei Boxdorf und Wahnsdorf liegt er zwar nicht auf der Hand, ergibt sich aber bei einem Blick auf die ältesten Namensformen „Bokoisdorph“ und „Wahendorf“, hinter denen sich die sorbischen Personennamen „Bokan“ und „Vojan“ verbergen. In den Strom der deutschen Siedler, die sich nach 1100 über die Saale nach Osten bewegten, wurden auch in gewisser Anzahl nicht wenige Leute aus der im Lande ansässigen sorbischen Bevölkerung einbezo­gen, wie sich aus dieser Beobachtung über die Ortsnamen ergibt. Im Falle von Boxdorf und Wahnsdorf ist der Name des sorbischen Vorstehers der Dorfgemeinde zur Bildung des Ortsnamens verwendet worden, denn für die deutschen Bewohner in den Nachbardörfern handelte es sich eben um das „Dorf des Bokan“ und das „Dorf des Vojan“. Im Falle von Rähnitz kann es sich um ein „Dorf des Ranis“ handeln, wobei die ersten Bewohner als Sorben zu denken sind. Ungeachtet der sprachlichen Verschiedenheit war aber das Dorf in der gleichen Art und Weise wie alle benachbarten deutschen Kolonialdörfer angelegt, nämlich als Straßenangerdorf. Es bestand aus zwei parallel laufenden Hofreihen, zwischen denen ein breiter, lang gestreckter Anger war.

Da im 12. Jahrhundert die aus dem Westen des Reiches einwandernden Kolonisten ebenso wie die im Lande ansässigen Sorben bereits Christen waren, musste für die neu angelegten Dörfer eine kirchliche Versorgung eingerichtet werden. Wenn man von der Boxdorfer Windmühle nach Norden blickt, dann hat man eine flache Beckenlandschaft vor sich, die vom Steilhang zum Elbtal bis Friedewald reicht und Boxdorf, Dippelsdorf, Eisenberg (heute Moritzburg), Rähnitz, Reichenberg, Wahnsdorf und Wilschdorf umfasst. Etwa in ihrer Mitte erstreckt sich Reichenberg, das nach Auskunft der Steuerregister des 16. bis 18. Jahrhunderts das größte dieser Dörfer war und vielleicht deshalb mit dem Namen „Reichenberg“ ausgezeichnet wurde. Hier entstand die Kirche als geistlicher Mittelpunkt der Landschaft, in die alle anderen Dörfer eingepfarrt wurden. Das Kirchspiel Reichenberg erstreckte sich noch im Jahre 1913 bis nach Rähnitz, erst dann wurde in diesem Ort eine selbstständige Kirchgemeinde eingerichtet. Auch die Einwohner von Wilschdorf gehörten ursprünglich zur Reichenberger Kirche, denn der Pfarrer von Wilschdorf musste noch Jahrhunderte lang Abgaben an den Pfarrer in Reichenberg entrichten. Es muss aber schon bald nach der Dorfgründung eine selbstständige Pfarrkirche eingerichtet worden sein, die 1243 erstmals erwähnt wurde. Sie war nur für Wilschdorf zuständig, so dass die Einwohner von Rähnitz an ihr vorübergehen mussten, wenn sie zum Gottesdienst, zu Taufen und Begräbnissen in „ihre“ Kirche nach Reichenberg gehen wollten.

Es kann angenommen werden, dass Wilschdorf etwas später als Rähnitz gegründet worden ist, denn bei seiner ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1242 wird es (Wilschdorf) „Ranis maius“ (übersetzt Groß-Rähnitz) genannt, was logischerweise ein Bestehen von (Klein-) Rähnitz voraussetzt. Später setzte sich aber der auf den Personennamen Wieland zurückzuführende neue Ortsname durch.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit war im Rahmen der Feudalordnung jedes Dorf einer Grundherrschaft zugeordnet, die von den Dorfbewohnern Abgaben und Dienstleistungen erhob. Rähnitz gehörte nachweislich seit dem 16. Jahrhundert zum größeren Teil zu dem weit entfernten Rittergut Döhlen im Plauenschen Grunde, ein kleinerer Teil war dem kurfürstlichen Amte Moritzburg zugeordnet. Diese Abhängigkeit wurde durch die sächsische Staatsreform von 1831 und die dabei festgelegte Abschaffung der feudalen Lasten beseitigt. Seitdem waren die Bauern vollberechtigte Eigentümer ihres Grund und Bodens, über den sie im Sinne der bürgerlich-liberalen Rechtsverhältnisse frei verfügen konnten. Das war eine wesentliche Voraussetzung für die bedeutende Orterweiterung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und die neuen Verkehrsanlagen, die bald danach auf der Flur des Dorfes errichtet wurden. Um diese Entwicklung hat sich der damalige Gemeindevorsteher Friedrich Wilhelm Becker verdient gemacht.

Über die Einwohnerzahlen des Dorfes liegen die frühesten Angaben aus dem Jahre 1547 vor. Damals gab es hier 34 ansässige Bauern, 5 Besitzer von kleinen Gartennahrungen, 3 Häusler und 10 besitzlose Einwohner. Die Flur umfasste 23 Hufen. Im Jahre 1764 wurden 35 Ansässige, 9 Gärtner, 8 Häusler und 27 Hufen verzeichnet. Die früheste Volkszählung im Jahre 1834 erbrachte 298 Einwohner, 1871 waren es 435, 1890 zählte man 717 und 1910 waren 2655 Einwohner zu verzeichnen. Wenn Rähnitz auch nicht an der Industrialisierung teilnehmen konnte, so zeigt die starke Vermehrung der Bevölkerung nach 1870 doch die Wirkung des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwunges im Lebenskreis der Großstadt Dresden vor allem nach der Jahrhundertwende. Das war auch die Ursache für die Einrichtung einer selbstständigen Kirchgemeinde im Jahr 1913. Ihr ging im Jahre 1899 die Anlage eines eigenen Friedhofes mit einer Parentationshalle und der Bau der Kirche im Jahre 1904 voraus. Der damals ins Auge gefasste Plan zum Bau eines Pfarrhauses ließ sich allerdings nicht verwirklichen.

Aus der Kirche ist auf den Dörfern das Volksschulwesen hervorgegangen. Seit der Reformation hat die lutherische Kirche die Alphabetisierung des ganzen Volkes vorangebracht, wobei bei jeder Kirche eine Kirchschule eingerichtet wurde. Die Kinder aus Rähnitz gingen daher Jahrhunderte lang zur Schule nach Reichenberg. Seit 1707 ist der „Reihenzug“ der Schüler erwähnt, der den Schulunterricht der Reihe nach in den Bauernhäusern ermöglichte. 1819 wurde das erste Lokal für den Schulbetrieb angemietet. Im Jahre 1841 wurden 87 Kinder in zwei Klassen unterrichtet, nachdem 1835 ein eigenes Schulhaus im Ort errichtet worden war. 1886 kam eine dritte Klasse hinzu. 1886 erhielt Rähnitz ein neues Schulhaus, das 1896 durch einen Anbau erweitert wurde. Ab 1905 gab es schließlich 10 Klassen.

Seit dieser Zeit wurde der Ort von Entwicklungen und Veränderungen betroffen, die sich auf größeren Teilen der Rähnitzer Flur vollzogen. Es begann mit der Gründung der Gartenstadt Hellerau aus dem Geist der Lebensreformbewegung, die sich gegen die schädlichen Auswirkungen der großstädtischen Zivilisation und der Industrialisierung wandte und gesunde Wohnverhältnisse in Eigenheimen anstrebte. Ein produktiver Kern der neuen Siedlung wurde von dem Tischlermeister Karl Schmidt in Gestalt der Deutschen Werkstätten für Handwerkskunst geschaffen. 1909 begann der Aufbau der Siedlung auf einer Fläche von 140 ha. Der Rähnitzer Gemeindevorstand Schlenker förderte das ganze Vorhaben kräftig, das bald darauf erbaute Festspielhaus wurde zu einer Pflegestätte moderner Kunst, so dass Hellerau sich zu einem Treffpunkt namhafter Persönlichkeiten des deutschen Kulturlebens entwickelte: der nationalliberale Reformpolitiker Friedrich Naumann, der Architekt Richard Riemerschmid, der Pädagoge und Volkswirt Wolfgang Dohrn, die Architekten Hermann Muthesius und Heinrich Tessenow und der Komponist und Tanzpädagoge Emile Jaques-Dalcroze.

Der Bau der Autobahn erreichte die Rähnitzer Flur im Jahre 1937, am Jahresende 1938 wurden 70 km als betriebsfertig übergeben. Das hatte Eingriffe in das gesamte Straßen- und Wegenetz zur Folge. Im Zuge der deutschen Wiederaufrüstung wurden größere Teile der Dorfflur für die Anlage des Dresdener Flughafens in Anspruch genommen, was die Enteignung von 13 Rähnitzer Bauern zur Folge hatte, die an anderen Orten durch Zuweisung von Grund und Boden entschädigt wurden.

Im Jahre 1919 wurde Rähnitz mit der inzwischen stark angewachsenen Gemeinde Hellerau vereinigt. Sie trug seit 1938 nur den Namen Hellerau, 1950 wurde sie mit der Stadt Dresden vereinigt. Das alte Bauerndorf hat am Rande der Großstadt seine in Jahrhunderten aufgewachsene Eigenart bewahrt und unterscheidet sich in seiner seit 850 Jahren nicht veränderten klaren Siedlungsform vom regellosen Gewirr der Wohngebiete, das im Laufe des 20. Jahrhunderts zustande gekommen ist.
Prof. Dr. Karlheinz Blaschke (2004)

Unterschiedliche Schreibweisen von “Rähnitz”

1268 Ranis
1357  Reynicz
1378  Reniß – Renyß – Renys
1470 Ryanis
1560 Renes
1607 Rennes
1812  Rähnitz
Weitere Schreibweisen nach der Chronik von Pfarrer Gersdorf (Reichenberg):
Raniss, Renis, Rennis, Reniss, Reniz, Renitz, Ränitz, Rehenz, Rehens, Rehnis, Reheniss, Rehnnis, Rehnitz, Rahnis, Rähniss, Rähnis, Rhenis, Rheniss, Rhenitz, Renss, Rens, Rehnss, Rehnz, Rehenis

Kommentar zu den unterschiedlichen Schreibweisen

Die Schreibweise des Ortsnamens hat sich, wie das ja von allen Ortsnamen älte­ren Ursprungs gilt, im Laufe der Zeit viel­fach geändert. Die jetzt übliche: Rähnitz ist verhältnismäßig neueren Datums. Sie tritt zwar erstmalig schon um 1720 auf, bleibt aber zunächst vereinzelt und hat sich erst um die Mitte des vorigen Jahr­hunderts (19. Jahrhundert, d. Red.) völlig eingebürgert. Schon in den [...] Visita­tionsakten von 1539 ist uns die doppelte Schreibweise „Rehenz“ und „Rehnss“ be­gegnet, und dann in den Kirchenbüchern und in amtlichen Zuschriften findet sich nicht selten auf ein und derselben Seite ein Wechsel der Schreibweise vor. Man legte eben in früheren Zeiten, ganz verschieden von der jetzigen Gepflogenheit keinen Wert auf eine feststehende Schreibweise der Ortsnamen, verfuhr vielmehr nach dem Grundsatze „variatio delectat“ (Ver­änderung ergötzt).
Chronik Pfr. Gersdorf (1909)

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