Wegscheider-Orgel

Nur wenige hundert Meter entfernt von der Christophoruskirche im benachbarten Rähnitz entstand 1995 in der Orgelwerkstatt Kristian Wegscheider die neue Orgel für unsere reizvolle kleine Wilschdorfer Kirche 

Neben der Orientierung der inneren und äußeren Gestaltung dieser Orgel an klassischen Vorbildern besitzt das Instrument als Besonderheit die Möglichkeit, zwischen zwei verschiedenen Stimmungsarten (Temperaturen) zu wählen: der mitteltönigen Stimmung, mit der die Musiker der Renaissance und des Frühbarock gespielt und komponiert haben, und der wohltemperierten Stimmung, die zur Zeit Johann Sebastian Bachs am Beginn des 18. Jahrhunderts eingeführt und bis zum frühen 19. Jahrhundert benutzt wurde.

Dadurch steht in Dresden nach vielen Jahrzehnten wieder eine Orgel zur Verfügung, auf der die Musik der fruchtbarsten Epochen der Orgelkomposition in den ihr zugedachten Klangfarben erklingen kann.
Die Orgel besitzt 14 klingende Register, was eine Pfeifenanzahl von 668 ergeben würde. Tatsächlich befinden sich auf den Windladen aber 988 Pfeifen. Jede Oktave besitzt statt der üblichen 12 hier 18 Pfeifen, damit die Umschaltung der Stimmung realisiert werden kann. Sechs Pfeifen sind in beiden Stimmungen verwendet, die übrigen sind doppelt und verschieden gestimmt um als reine große Terzen in der Mitteltönigkeit oder als reine Quinten in der Wohltemperierung zu klingen. Ingo Kuntzsch (Oktober 2005)

1995-2005 “10 Jahre Wegscheider-Orgel”

Zum 10-jährigen Jubiläum der Wegscheider-Orgel im November 2005 entstand eine Festschrift, deren Inhalt wir hier widergeben wollen:

Zur Entstehungsgeschichte der Wegscheider-Orgel

In der Christophorus-Kirche Dresden-Wilschdorf stand seit 1928 eine pneumatische Orgel der Firma Jahn (Dresden), die sich zuletzt als sehr störanfällig erwiesen hat. Der Klang war unbefriedigend geworden. Die Orgel konnte kaum noch gestimmt werden konnte, da einige Metallpfeifen schon stark deformiert waren. Seit vielen Jahren konnte die Orgel nur durch einen erheblichen Kostenaufwand am Klingen erhalten werden. Fachleute waren sich einig: Die Orgel kann nicht restauriert werden.
Die finanzielle Situation der Gemeinde ließ einen Orgelneubau jedoch nicht zu. So muss es als günstiger Wink des Himmels gesehen werden, dass zur 750-Jahr-Feier von Wilschdorf der Dresdner Bundestagsabgeordnete Wolfgang Mischnik mit dem damaligen Ortsamtsleiter Werner Richter auf einem Rundgang durch Wilschdorf die Probleme und Schwierigkeiten des Ortes erörterten. Wolfgang Mischnik – u. a. Mitglied im Kuratorium der vom Unternehmer Peter Dussmann gegründeten Stiftung Ascholdinger Nachmittag – wollte sich für ganz konkrete Hilfe einsetzen. Doch ein geeignetes Projekt fand sich nicht. Auf ihrem Rundgang kamen die beiden Herren auch in die Wilschdorfer Kirche. Unter anderem hörten sie die Orgel und die Klagen des Pfarrers Peter Mütze über deren Zustand. Die Idee war geboren: Hier soll die Dussmann-Stif­tung Abhilfe schaffen. Doch ganz so einfach war das nicht – die Stiftung unterstützt eigentlich nur die Restaurierung bedeutender Kulturdenkmäler, folglich nicht die industriell gefertigte Orgel vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch Wolfgang Mischnik und Werner Richter gaben nicht auf und überzeugten nach langen und zähen Verhandlungen das Kuratorium der Stiftung, den Bau der Orgel zu finanzieren. Ausschlaggebend war dabei, dass es sich bei der Wilschdorfer Kirche um das älteste Gotteshaus auf dem Dresdner Stadtgebiet handelt. So wurde am 7. Mai 1993 von Frau Dussmann ein symbolischer Scheck über 160 000 DM überreicht.

Obwohl die nochmalige Bitte nicht leicht fiel, konnte dieser Betrag um 35 000 DM aufgestockt werden, da unvorhergesehene Ausgaben die Realisierung des Vorhabens erschwerten.
Aus vier Kostenvoranschlägen musste sich der Kirchenvorstand nun entscheiden. Nach Beratungen mit Orgelfachleuten fiel das Votum klar für Orgelbaumeister Kristian Wegscheider aus, einen über Deutschland und Europa hinaus gefragten Fachmann. In seiner Werkstatt auf dem Rähnitzer Bauernweg ist die neue Wilschdorfer Orgel entstanden, bevor sie innerhalb von sechs Wochen in die Kirche eingebaut werden konnte. Die festliche Weihe wurde schließlich am 22. Oktober 1995 mit Festgottesdienst und Orgelkonzert begangen.

Das Wunder von Wilschdorf

Vom „Orgelwunder in Wilschdorf“ sprach Pfarrerin Heide Stamm am vergangenen Sonntag [1995, d. Red.] anlässlich der Orgelweihe in Dresdens ältestem Kirchenraum, der seit 1242 existierenden Wilschdorfer Christophoruskirche. In einer Zeit leerer Kirchenkassen, dringender Bauaufgaben und wirtschaftlicher Sorgen grenze es schon an ein Wunder, wenn eine kleine Gemeinde am Rande der Großstadt ein Orgel-Kunstwerk bauen lassen könnte, das zudem hinsichtlich seiner Disposition in der europäischen Orgellandschaft nicht seinesgleichen findet. Diese Einmaligkeit wurde im Orgelweihgottesdienst gleich mehrfach deutlich. Die neue Orgel entstand in einer stadtnahen Kulturlandschaft, in der nicht nur ein amerikanischer Konzern investieren möchte [AMD, d. Red.], sondern wo es auch kräftige Impulse ganz anderer Art gibt: einen Ortsamtsleiter [Werner Richter, d. Red.], der zur rechten Zeit gemeinsam mit dem Ortspfarrer die Fäden zur kulturfördernden Dussmann-Stiftung knüpfte, eine unermüdliche C-Kantorin, die kirchenmusikalische Basisarbeit leistet (die Früchte waren am Sonntag hörbar; selbst das Gewand der Kantorin war auf den (Farb-) Ton des kunstvollen Orgelgehäuses abgestimmt), vorwärtsdenkende Kirchvorsteher, spendenwillige Gemeindeglieder, einsatzbereite Handwerker am Ort, spurensuchende Ortschronisten – und natürlich eine kreative Orgelbauwerkstatt im benachbarten Rähnitz.

Bereits in den 80er Jahren hatte Orgelbaumeister Kristian Wegscheider (seine Frau Britta Schwarz sang zur Orgelweihe einen Schütz-Psalm) gemeinsam mit dem seinerzeitigen Ortspfarrer Peter Mütze für eine Orgel mitteltöniger und wohltemperierter Stimmung entworfen, die zum Pilgerort stilvollen Musizierens werden könnte. Nun hat die Dussmann-Stiftung (am Sonntag durch Geschäftsführer Schulze und Kuratoriumsmitglied Wolfgang Mischnick vertreten) diesen Plänen zur Realität verholfen. Kristian Wegscheider, der immer wieder auf seine „Lehrjahre“ im Orgelbaubetrieb Jehmlich hinweist, war so besessen von seiner Idee, dass er jetzt der Wilschdorfer Kirche ausgewählte Orgelbauteile zum Geschenk machte und in der Nacht vor der Orgelweihe die Stimmung des Instruments selbst übernahm – wusste er doch, dass bisher nur einmal auf der Welt – an der kalifornischen Stanford-University – ein vergleichbares Instrument zu finden ist.

[...] Soeben von einer Geschäftsreise nach Texas zurückgekehrt, ist er jedoch frei von provinzieller Denkweise. U. a. kaufte er für ausgewählte Basspfeifen der neuen Orgel eigenhändig 200-jähriges Fichtenholz in Graubünden/Schweiz ein und betonte an anderer Stelle, diese in klassischer Weise gebaute Orgel „besteht aus den Materialien, die sich seit Jahrhunderten als haltbar und gut erwiesen haben … Kunststoffe und Leichtmetall, Spanplatten und Sperrholz findet man nicht in der Orgel“ (auch kein Elfenbein!). Die mitteltönige Orgelstimmung empfahl er als besonders hilfreich und wohltuend für die Begleitung des (gottesdienstlichen) chorischen Singens. Bei der Orgelführung war ihm KMD i. R. Gottfried Fischer ein geist- und phantasievoller Partner. Beim nachmittäglichen „Konzert zur Orgelweihe“ beeindruckte der Berlin-Zehlendorfer Organist Klaus Heller […] mit Werken des 16. und 17. Jahrhunderts in ausschließlich mitteltöniger Stimmung und vermittelte so ein Klangerlebnis, das andernorts in Dresden nicht möglich ist. […] Dietrich Buschbeck (Oktober 1995)

Die Orgel

Bei der Gestaltung der Orgel war es ein Grundanliegen, Bezug auf die Ausstattung der Kirche zu nehmen. Das Äußere der Orgel erinnert des­halb in seinen Formen an die Zeit der Renaissance; Die Bögen, welche die Gemäldetafeln der Kanzel rahmen, finden sich im Orgelprospekt wieder. Die farbliche Gestaltung nimmt die hellen Grautöne der Em­poren und das Rot der mittelalterlichen Wandmalereien auf. Das Gehäuse ist aus Fichtenholz gearbeitet, die Windladen sind durch und durch aus Eiche.
Die Manualklaviaturen sind mit Buchsbaum und Ebenholz belegt. Die Züge für die Register sind ebenfalls aus Ebenholz.
Die gesamte technische Anlage im Innern der Orgel ist auf klassische Weise gebaut und besteht aus den Materialien, die sich seit Jahrhunderten als haltbar und gut im Orgelbau erwiesen hatten: Holz (Eiche, Ahorn, Fichte), Leder (für alle abdichtenden Teile), Messingdraht (für die Verbindungen zwischen Tasten und Ventilen), Muttern zum Regulieren aus ganz dickem Leder … Kunststoffe und Leichtmetall, Spanplatten und Sperrholz findet man nicht in der neuen Orgel.
Neben der Orientierung der inneren und äußeren Gestaltung dieser Orgel an klassischen Vorbildern besitzt das Instrument als Besonderheit die Möglichkeit, zwischen zwei verschiedenen Stimmungsarten (Temperaturen) zu wählen: der mitteltönigen Stimmung, mit der die Musiker der Renaissance und des Frühbarock gespielt und komponiert haben, und der wohltemperierten Stimmung, die zur Zeit Johann Sebastian Bachs am Beginn des 18.  Jahrhunderts eingeführt und bis zum frühen 19. Jahrhundert benutzt wurde.
Dadurch steht in Dresden nach vielen Jahrzehnten wieder eine Orgel zur Verfügung, auf der die Musik der fruchtbarsten Epochen der Orgelkomposition in den ihr zugedachten Klangfarben erklingen kann.
Die Orgel besitzt 14 klingende Register, was eine Pfeifenanzahl von 668 ergeben würde. Tatsächlich befinden sich auf den Windladen aber 988 Pfeifen. Jede Oktave besitzt statt der üblichen 12 hier 18 Pfeifen, damit die Umschaltung der Stimmung realisiert werden kann. Sechs Pfeifen sind in beiden Stimmungen verwendet, die übrigen sind doppelt und verschieden gestimmt, um als reine große Terzen in der Mitteltönigkeit oder als reine Quinten in der Wohltemperierung zu klingen.
Das Pfeifenwerk des Hauptwerkes ist aus Metall (Zinn und Blei) gebaut; Die Prospektpfeifen sind mit einem Poliereisen handpoliert. Im Brustwerk sind die Pfeifen aus Eichen- und Birnbaumholz, im Pedal aus Fichtenholz.
Die Türen im Brustwerk sind nicht nur Zier und Staubschutz, sie erlauben auch eine Veränderung der Lautstärke beim Spiel. Damit das Werk in voller Pracht erklingen kann, gibt es Manual- und Pedalkoppeln, die dem Spieler die Möglichkeit geben, das Brustwerk vom Hauptwerksklavier und das gesamte Werk im Pedal zu spielen.

Die Stimmungen der Orgel

Das Instrument erhält eine Besonderheit, die es von allen Orgeln unseres Landes unterscheidet: zwei unterschiedliche Stimmungsarten, die man wahlweise für Musik verschiedener Epochen benutzen kann. Unter Stimmungsart („Temperatur“) versteht man die Verteilung der 12 Töne innerhalb einer Oktave. Die Oktave ist das einzige Intervall, das in der heute üblichen gleich schwebenden Temperatur rein gestimmt wird. Alle anderen Intervalle wie Terz, Quarte oder Quinte werden in der heutigen Orgelstimmung nur gleichmäßig verstimmt, d. h. alle 12 Töne werden mathematisch genau in der Oktave verteilt. Das war nicht immer so. Etwa bis 1800 gab es eine Reihe sehr verschiedener Stimmungen. Da eine Verteilung, bei der alle Intervalle rein sind, technisch nicht möglich ist, ver­suchte man, einzelne Tonarten besonders rein zu stimmen. Dies geschah auf Kosten der anderen Tonarten, die dafür unreiner, ja teilweise un­brauchbar wurden. Die gebräuchlichste Stimmung des 17. und frühen 18. Jahrhunderts war die so genannte mitteltönige Stimmung. Das Charakteristische an dieser Stimmung ist, dass acht große Terzen (Dur-Terzen) rein sind. Die übrigen vier großen Terzen mussten so verstimmt werden, dass sie für die Musik unbrauchbar wurden. Die Komponisten der Zeit wussten das natürlich und haben es in ihren Kompositionen berücksichtigt. Um die alten Kompositionen in ihrer Klangschönheit zu erleben, müsste eine Orgel eigentlich in dieser mitteltönigen Temperatur gestimmt werden.

Seit etwa 1730 wurde den „modernen“ Komponisten dieser begrenzte harmonische Raum zu eng: Es wurden Modulationen nach H-Dur oder nach Fis-Dur, nach As-Dur oder Cis-Dur komponiert, die mit der alten Stimmungsart nicht darstellbar waren. Die wohltemperierte Stimmung entstand. Die reinen Terzen wurden etwas verstimmt und die stark verstimmten so genannten schlechten Terzen wurden etwas besser einge­stimmt, so dass nun alle Tonarten brauchbar waren, wenn auch mit sehr deutlich unterschiedlicher Charakteristik. 

Um nun die Musiken älterer Epochen in den alten reinen und zeit­typischen Klängen wiedergeben zu können, kann man auf der Wilschdor­fer Wegscheider-Orgel umschalten von wohltemperiert auf mitteltönig. Dabei werden die Pfeifen für die Töne C, D, E, G, A und H in beiden Stimmungsarten verwendet und für die Töne Cis, Es, F, Fis, Gis und B werden je zwei Pfeifen pro Ton gebaut, die dann wahlweise eingeschaltet werden können. Da die meisten Choräle in der alten Art komponiert sind, wird die Gemeinde schnell merken, dass es sich zu der alten mittel­tönigen Stimmung mit ihren reinen Terzen sogar besser singen lässt. Durch die Umschaltmöglichkeit ist die Orgel nicht eingeengt auf alte Musik. Kristian Wegscheider (März 1994)

N. B.: Die nötigen zusätzlichen Orgelpfeifen und die Umschaltung waren ein Geschenk des Orgelbaumeisters Kristian Wegscheider an die Gemeinde. Zudem erhöhte er die Garantiezeit auf 20 Jahre.

Orgelbaumeister Kristian Wegscheider

Kristian Wegscheider (geb. 1954 in Ahrenshoop) hat nach dem Abitur und seinem Armeedienst 1974 für ein Jahr in einer Möbeltischlerei in Barth (Vorpommern) gearbeitet und anschließend von 1975 bis 1978 den Orgelbau in der Dresdner Firma Jehmlich erlernt. Noch während seiner Ausbildung begann er, sich intensiv mit historischen Orgeln zu beschäftigen und wurde 1976 bis 1980 von der Firma Jehmlich zu dem Fachschulfernstudium Restaurierung von Musikinstrumenten in Berlin und Leipzig delegiert. Als Orgelrestaurator und Leiter der Restaurierungsabteilung plante und leitete er in der Orgelbaufirma Jehmlich solch interessante Arbeiten wie die Restaurierungen der Freiberger Domorgel (Silbermann 1714) und der Güstrower Domorgel (Lütkemüller 1868). 

Im Jahr 1989 wurde die Orgelwerkstatt Kristian Wegscheider in Dresden gegründet. Zunächst fand sie Platz in einer alten Tischlerei auf der Alaunstraße. Der Umzug nach Rähnitz erfolgte im Sommer 1994, wiederum in eine ehemalige Tischlerei, die seit 10 Jahren leer stand.

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